6

Und ihr wollt wirklich nach Alaska?«, fragte Maggie. Man sah ihr an, wie sehr ihr der Entschluss ihrer Freundin zu schaffen machte. »Hast du denn nicht gehört, was da oben los ist? So einen großen Goldrausch soll es noch nie gegeben haben, nicht mal am Fraser damals. Halb Amerika ist zum Klondike unterwegs. Oder seid ihr neuerdings unter die Goldgräber gegangen?«

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Clarissa. Sie saß mit ihrer Freundin und Mary Redfeather im Wohnzimmer und trank Tee. Die Pensionswirtin kochte den besten Tee der Stadt, versetzte ihn mit Waldbeeren und etwas Rum, den sie bei einem befreundeten Schiffskapitän kaufte. »Aber selbst mit den vielen Goldgräbern leben dort immer noch weniger Menschen als hier. Da ist genug Platz. Wenn wir wollten, könnten wir unser Blockhaus an einer Stelle bauen, die viele Tagesreisen von der nächsten Ortschaft entfernt liegt.«

»Aber hier seid ihr doch sicher! Meine Söhne haben sich nicht gemeldet. Frank Whittler ist nicht umgekehrt. Er ist wahrscheinlich schon auf dem Heimweg nach Vancouver. Ein Mann wie er hat doch sicher was Besseres zu tun, als eine ehemalige Hausangestellte zu jagen. Mit dem vielen Geld, das er auf dem Konto hat, kann er sich die Frauen doch aussuchen. Es gibt genug verrückte Frauen, die sich wegen ein paar Dollar mit so einem einlassen.«

»Er hat es auf mich abgesehen, Maggie, und er wird erst zufrieden sein, wenn er sich an mir gerächt hat. So leicht lässt sich der nicht abschütteln. Alex und ich würden lieber bleiben, das kannst du mir glauben, aber wenn wir es darauf ankommen lassen, landen wir vielleicht beide im Gefängnis. Du weißt nicht, wie rabiat Whittler sein kann. Er ist unberechenbar. Der hätte mich umgebracht, wenn ich nicht rechtzeitig geflohen wäre. Er ist verrückt!«

»Wir werden dich vermissen«, sagte Mary Redfeather.

»Und ich werde euch vermissen«, erwiderte Clarissa. »Glaube mir, es fällt uns bestimmt nicht leicht, von hier wegzugehen. Wir mögen die Gegend und haben hier viele neue Freunde gewonnen. Aber es geht leider nicht anders, zumindest im Augenblick. Vielleicht kommen wir später mal zurück, obwohl ich bezweifele, dass Whittler jemals aufgeben wird.« Sie nippte an ihrem heißen Tee und vermied es, ihren Freundinnen in die Augen zu blicken, weil sie dann sofort losgeheult hätte. »Kümmerst du dich um unsere … um unsere Hütte, Maggie? Vielleicht könnte einer deiner Söhne dort einziehen, dann wüsste ich wenigstens, dass sie in guten Händen ist. Die Möbel sind noch alle drin.«

Maggie war ebenfalls den Tränen nahe. »Natürlich … Vielen Dank.«

»Und du, Mary, kannst die Hunde haben. Alle außer Smoky, den nehmen wir nach Alaska mit. Du wolltest dir doch sowieso einen Schlitten zulegen.«

»Aber nur, wenn ich dafür zahlen darf«, wandte die Pensionswirtin ein. »So ein Neuanfang ist teuer, und ihr braucht wahrscheinlich jeden Dollar.«

Clarissa lachte. »Es sei denn, wir stoßen auf eine Goldmine.«

In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig. Immer wieder tauchte das Bild des geheimnisvollen Wolfes vor ihren Augen auf, wie er ihr während der Rückfahrt den Weg versperrt und durch seine Gesten vor Whittlers Rückkehr gewarnt hatte. Ihren Freundinnen hatte sie nichts von Bones erzählt. Sie wussten nichts von der eindringlichen Warnung, die sie in seinen gelben Augen gesehen hatte.

Frank Whittler war umgekehrt, auch wenn Maggies Söhne ihn noch nicht gesehen hatten. Er war nach Port Essington unterwegs und würde sich an ihr rächen, wenn sie nicht rechtzeitig an Bord des Dampfschiffes kamen. Bones hatte sie noch nie belogen. Sie vertraute ihm, mochte Alex ihn auch für eine Fata Morgana halten und sogar Maggie an ihrer Geschichte zweifeln, wenn sie ihr von ihrem vierbeinigen Schutzgeist berichtet hätte. Vielleicht hatte Alex ja recht, und er war tatsächlich eine Fata Morgana und lebte nur in ihrer Vorstellung und ihren Träumen, aber seine Warnungen nahm sie ernst. Wenn er ihr mitteilte, dass Gefahr drohte, glaubte sie ihm.

Sie setzte sich auf und trank von dem kühlen Wasser, das sie neben ihrem Bett stehen hatte. Von Unruhe erfüllt, stand sie auf und trat ans Fenster. Es war bereits weit nach Mitternacht. Der Schneeregen hatte nachgelassen, und sie hatte einigermaßen klare Sicht. Der Hügelkamm, auf dem sie Bones in der vergangenen Nacht gesehen hatte, lag verlassen in der Dunkelheit. Im schwachen Licht des Mondes, der zwischen zwei Wolken auftauchte, glänzte der Schnee.

In dem Teil der Stadt, den sie überblicken konnte, waren alle Lichter erloschen, nicht mal im Saloon brannte noch Licht. Draußen auf dem Meer, ungefähr eine halbe Meile vor der Küste, zeichneten sich die Umrisse eines großen Frachters gegen das Mondlicht ab, bestimmt eines der Schiffe, die zwischen Vancouver und Asien verkehrten. Mit Japan und China trieben die Kanadier regen Handel. Manchmal ankerten die Schiffe vor der Küste, um heimliche Fracht aus den Indianerdörfern auf die Queen Charlotte Islands aufzunehmen.

Wenn nur das Dampfschiff nach Alaska endlich käme, dann könnten sie schon mal an Bord gehen. Dort wären sie zwar nicht sicherer, denn Whittler würde nicht davor zurückschrecken, auf dem Schiff nach ihnen zu suchen, aber zumindest außer Sichtweite. Noch einen Tag mussten sie überstehen. Maggie hatte ihr versprochen, einen befreundeten Indianer, der einige Meilen außerhalb der Stadt in einer Blockhütte wohnte, nach Hazelton zu schicken. Für alle Fälle, wie sie sagte, und damit du besser schlafen kannst. Wenn er tatsächlich Whittler begegnete, würde er versuchen, ihm weiszumachen, dass Alex und sie nach Nordwesten gezogen waren. »Mach dir keine Sorgen!«, hatte Maggie sie beruhigt. »Wenn es darum geht, einen Mann wie ihn von einer guten Freundin abzuhalten, halten alle Indianer zusammen.«

Besser schlafen konnte sie deswegen nicht, im Gegenteil, sie fühlte sich ihrer Freundin gegenüber schuldig, weil sie ihr so viel abverlangte. Sie würde Maggie vermissen, Maggie und Mary und all die anderen, sogar den Schmied, der sie jeden Morgen mit seinem Hämmern genervt hatte, und Edward und seine Frau Joscelyn, die fast ständig gestritten hatten. Sie würden genauso in ihren Gedanken bleiben wie ihre Eltern, die viel zu früh gestorben waren, und ihre Freunde und Bekannten in Vancouver, meist Fischer wie einst ihr Vater und die gleichaltrigen Männer und Frauen, die sie von der Highschool kannte.

Sie wartete, bis der Mond wieder hinter den Wolken verschwand, und kehrte ins Bett zurück. Mit dem Gedanken an Alex, der keine fünfzig Schritte von ihr entfernt im Krankenzimmer des Doktors lag, schlief sie ein. In ihrem Traum sah sie Alex und sich an der Reling des Dampfschiffes stehen, den Blick auf die zerklüftete Küste von Alaska gerichtet und ein hoffnungsvolles Lächeln im Gesicht. Ein Bild, das ihr Mut machte und sie einigermaßen gut gelaunt aufstehen ließ. Noch ein Tag und eine Nacht, dann würde ihr Dampfschiff vor der Küste ankern. Normalerweise kam es schon am frühen Morgen und fuhr dann gegen neun Uhr weiter nach Norden. Mit den vielen Goldsuchern, die diesmal an Bord sein würden, vielleicht sogar eine Stunde früher.

Noch vor dem Frühstück kümmerte sie sich um Smoky. Der Husky hatte sich etwas erholt und leckte an dem Wasser, das sie ihm hinstellte, doch den Brei lehnte er ab und zog sich gleich wieder auf sein Lager zurück. Clarissa hatte ihm die Medizin, die ihr der Doktor für ihn gegeben hatte, ins Wasser gemischt und nickte zufrieden, als er die Augen schloss und wieder einschlief. Sie hatte selbst mal einen Zahn verloren und erinnerte sich noch gut an die Schmerzen, die sie damals gehabt hatte. Eine Woche lang hatte sie ausschließlich von Hühnerbrühe gelebt. »Keine Angst«, tröstete sie den dösenden Husky, »wir kriegen dich wieder hin. So schlimm ist das alles nicht.«

Die anderen Hunde hatte Mary Redfeather bereits gefüttert. »Wenn du mir die Biester schon verkaufen willst, kann ich mich auch um sie kümmern.« Sie überreichte Clarissa einen kleinen Beutel mit Goldstaub und lehnte scheinbar entrüstet ab, als sie ihn nicht annehmen wollte. »Was soll ich mit dem Gold?«, fragte sie. »Ihr könnt es besser brauchen. Ich hab hier alles, was ich brauche.« Kichernd fügte sie hinzu: »Außer einem anständigen Mann, aber wenn ich ehrlich bin, ist die Auswahl in dieser Stadt nicht besonders groß. Und wer heiratet schon die Tochter eines Chinesen und einer Indianerin?«

Nach dem Frühstück, das aus Pfannkuchen mit Preiselbeermarmelade und Spiegeleiern bestand, eigentlich ein Essen, das Mary Redfeather nur hungrigen Fallenstellern servierte, ging Clarissa zum Haus des Doktors, um Alex zu besuchen. Weil jeder wusste, dass Doktor Weinbauer allein lebte und nicht gerade für seine guten Kochkünste bekannt war, hatte ihr die Pensionswirtin einen Teller mit heißen Pfannkuchen und eine Kanne Kaffee mitgegeben. Der Doktor trug seinen Morgenmantel, als er die Tür öffnete, und gähnte ungeniert. »Mmh, das riecht aber gut«, begrüßte er sie, »sind die etwa für mich?«

Sie lächelte. »Nur wenn Alex was übrig lässt … Was ich kaum glaube.«

»Schade«, erwiderte er.

»Ist er schon wach?«

»Keine Ahnung, ich bin gerade erst aus den Federn gekommen.« Er bat sie herein. »Am besten sehen Sie selbst mal nach. Sie wissen ja, wo er liegt.«

Clarissa ging durch den Flur, stellte das Tablett mit dem Frühstück auf einer Kommode ab und klopfte an die Tür des Krankenzimmers. Sie wartete vergeblich auf ein »Herein!«. Als Alex auch beim zweiten Klopfen nicht antwortete, öffnete sie die Tür, nahm das Tablett und betrat den Raum. »Aufwachen, du Faulpelz!«, rief sie. »Oder willst du den ganzen Tag verschlafen?«

Wieder keine Antwort, sein Bett war leer.

Sie blieb überrascht stehen und blickte sich suchend um, sah ihn weder vor dem Waschtisch noch am Fenster stehen, stellte das Tablett ab und zog die Decken von seinem Bett, aber auch dort war er nicht. Verstört kehrte sie in den Flur zurück. »Doc!«, rief sie. »Doc Weinbauer! Wo stecken Sie denn?«

Der Doktor kam aus dem Wohnzimmer. Er war wohl gerade damit beschäftigt gewesen, das Feuer im Ofen in Gang zu bringen, und rieb die schmutzigen Hände gegeneinander. »Was gibt’s denn? Geht’s ihm nicht gut?«

»Er ist nicht da.«

»Wie bitte?«

»Alex ist nicht in seinem Zimmer!«

»Aber das ist unmöglich …« Der Doktor schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich habe ihm gestern Abend noch gesagt, er solle auf keinen Fall aufstehen und sich lieber noch einen Tag ausruhen, vor allem wegen der Prellungen, die ihm sonst große Schmerzen bereiten würden, aber …« Er blickte sich suchend um. »Vielleicht ist er in einem der anderen Zimmer.« Er sah im Wohnzimmer und im Behandlungsraum nach und kehrte kopfschüttelnd zurück. »Nichts.«

Clarissa blickte die Treppe hoch. »Und oben?«

»Da ist mein Schlafzimmer, da ist er bestimmt nicht.«

»Sehen Sie bitte trotzdem mal nach!«

Doktor Weinbauer stieg achselzuckend die Treppe hinauf und blieb eine ganze Weile im ersten Stock. Seine schlurfenden Schritte waren deutlich zu hören. Clarissa nützte die Zeit und suchte noch einmal alle Zimmer im Erdgeschoss ab, sogar die Küche, und wurde ebenso wenig fündig wie der Doktor.

»Er ist verschwunden«, sagte Doktor Weinbauer.

»Vielleicht ist er draußen …. Er ist sicher draußen! Dieser verrückte Kerl! Wollte sich wahrscheinlich beweisen, was er alles aushält, und ist irgendwo zusammengebrochen. Sie hätten besser auf ihn aufpassen müssen, Doc!«

»Ich? Bin ich vielleicht sein Kindermädchen?«

Clarissa lief aus dem Haus und blickte die Straße hinab. Sie erkannte ein paar vertraute Gesichter, den Besitzer des Eisenwarenladens, der vor seinem Haus auf Kunden wartete und auf einer kalten Zigarre herumkaute, den Schmied, der aus seiner Werkstatt getreten war und ihr freundlich zuwinkte.

»Haben Sie Alex gesehen?«, fragte sie ihn.

»Alex? Ich dachte, der ist krank?«

»Er ist nicht in seinem Zimmer.«

»So sind sie, diese Fallensteller. Wollen der ganzen Welt beweisen, was für tolle Kerle sie sind!« Der Schmied lachte. »Wegen Alex würde ich mir keine Sorgen machen, Ma’am. Der geistert wahrscheinlich durch die Wälder, oder er ist am Wasser unten und lässt sich den Wind um die Nase wehen.«

»Meinen Sie?«

»Ganz sicher, Ma’am. Der geht nicht verloren.«

Clarissa beruhigte sich ein bisschen und lief hinters Haus. Angestrengt und mit zusammengekniffenen Augen suchte sie die verschneiten Hänge nach Alex ab. Auch dort konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Sie kehrte enttäuscht auf die Straße zurück und sah den Doktor in der offenen Tür stehen. »Ich kann ihn nicht finden, Doc. Haben Sie denn heute Morgen nichts gehört?«

»Morgens schlafe ich besonders fest, aber …«

»Aber?«

»Einmal hörte ich tatsächlich den Boden knarren, aber wenn es wärmer wird, dehnt sich das Holz, und so ein Knarren ist nichts Ungewöhnliches.«

Clarissa rannte in die Pension zurück und zog ihre Felljacke und ihre Stiefel an. »Alex ist verschwunden!«, rief sie durch den Flur. »War er hier?«

»Alex?« Mary Redfeather kam aus der Küche. »Nein, ich dachte … Verschwunden, sagst du?« Sie begriff jetzt erst, was Clarissa gesagt hatte. »Wie kann denn jemand, der so krank ist wie er, verschwinden? Will er etwa den starken Mann markieren? Mit so einem Brummschädel kann das böse enden.«

»Halt ihn fest, falls er hier auftaucht!«

»Und du?«

»Ich suche nach ihm.«

Clarissa lief aus dem Haus und folgte einem schmalen Pfad, der vor der Stadt von der Wagenstraße abbog und durch dichten Fichtenwald auf den Hügelkamm führte, auf dem sie Bones gesehen hatte. Den Weg hatten Alex und sie oft genommen, wenn sie in der Stadt waren und am frühen Morgen die Sonne über dem Meer aufgehen sehen wollten. Wenn man den Pfad verließ und etwas tiefer in den Wald drang, fand man Kräuter, Pilze und Beeren.

Das Schöne an dem Trail war, dass man schon nach wenigen Schritten das Gefühl hatte, allein in der Wildnis zu sein. Die Stadt und die Wagenstraße schienen meilenweit entfernt. Auch jetzt empfing sie wieder eine beeindruckende Stille, obwohl sie dankbar gewesen wäre, die Schritte eines Mannes zu hören. Alex war nicht zu sehen, nicht eine Spur von ihm, keine frischen Fußabdrücke, keine abgebrochenen Äste oder Zweige. Sie war allein.

Bis auf den schmalen Hügelkamm brauchte sie ungefähr eine halbe Stunde. Sie wusste schon vorher, dass sie ihn dort nicht finden würde, lief aber unbeirrt weiter, denn von dort hatte man einen guten Ausblick auf die Stadt und die Umgebung. Schwer atmend, weil sie in ihrer Panik schneller als gewöhnlich gelaufen war, erreichte sie den Waldrand. Sie blieb stehen und wartete, bis ihr Atem ruhiger ging und sog die frische Morgenluft tief in ihre Lungen.

Unter ihr, am Ende des weiten Schneefeldes, das sich vom Hügelkamm bis zur Wagenstraße zog, lag die Stadt. In dem trüben Licht, das der verhangene Himmel zuließ, wirkte sie noch einsamer und verlassener. In mehreren Häusern und einigen Fischerbooten im Hafen brannten Lichter. Die Hammerschläge des Schmieds drangen als mehrfaches Echo zu ihr herauf. Manchmal fragte sie sich, woran er den ganzen Tag arbeitete. Einige Huskys, vielleicht sogar ihre eigenen, heulten und jaulten so herzzerreißend und lautstark, dass sie sich fragte, ob sie Alex vermissten und nach ihm riefen.

Clarissa beschattete ihre Augen mit einer Hand und suchte die gesamte Gegend nach Alex ab. Den Waldrand, die Hänge, den Trail, der hinter den Häusern an der Stadt vorbeiführte. Den Hafen und die zerklüftete Küste. Sie hätte ihn sofort erkannt, selbst wenn er nur schemenhaft zu sehen gewesen wäre. Sie erkannte ihn an der Art, wie er sich bewegte und seine Fellmütze aus dem Gesicht schob, wenn sie ihm in die Stirn rutschte. An den raumgreifenden, etwas ungelenk wirkenden Schritten und der ständigen Bereitschaft, sofort auf eine Gefahr zu reagieren, die den erfahrenen Fallensteller verriet.

»Verdammt, Alex! Wo bist du?«, fluchte sie laut.

Sie lief in die Stadt zurück und schüttelte nur den Kopf, als sie an der Pension vorbeikam, und die Wirtin aus dem Haus kam und sie fragend anblickte. Von wachsender Unruhe getrieben, lief sie die Straße hinunter, vorbei am Haus der Joscelyns, die wieder lautstark miteinander stritten, und zum Saloon. Sie ging hinein und sah den Wirt hinter dem Tresen stehen. Eines der leichten Mädchen, der Uhrzeit entsprechend mit einem leichten Morgenmantel bekleidet, saß an einem der runden Tische und trank Kaffee. Auf einigen Strohballen in der Ecke schliefen der stadtbekannte Säufer und ein Hund.

»Haben Sie meinen Mann gesehen?«, fragte sie.

»So was sagen sonst nur alte Ehefrauen«, erwiderte der Wirt.

Das leichte Mädchen sah kaum von ihrem Kaffee auf. »Wenn er bei mir wäre, hätten Sie ein Problem, Ma’am. Nee, der hat sich nicht sehen lassen.«

Clarissa verließ den Saloon, erleichtert und besorgt zugleich, und ging zum Hafen, wo sie die Fischer fragte, die aber alle nur den Kopf schüttelten. Niemand hatte ihren Mann gesehen. Er war spurlos verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. »Alex!«, flüsterte sie verzweifelt. »Wo bist du?«

Sie ging am Hafen entlang und kletterte die Böschung hinauf, die am südlichen Ende neben der Hafenmauer emporstieg. Über die Hügel, die sich dahinter erhoben, führte ein schmaler Pfad, auf dem die Kinder im Sommer ihre Drachen steigen ließen.

Auch als sie auf die Böschung stieg, wehte dort ein böiger Wind und ließ ihren langen Rock flattern. Wenn sie nicht mit dem Hundeschlitten unterwegs war, trug sie immer einen Rock, besonders hier in der Stadt, wo manche Frauen immer noch die Nase rümpften, wenn man eine Hose trug. Auch Alex sah sie gerne in einem Rock, das fand er so »ladylike«.

Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als sie dem schmalen Pfad zum Kiesstrand hinunter folgte und einen Stiefel auf dem Boden liegen sah. Je näher sie ihm kam, desto größer wurde ihre Gewissheit. »Alex … Das ist Alex’ Stiefel!«, flüsterte sie entsetzt. Sie hob ihn auf und starrte ihn ungläubig an. Sein Stiefel, es bestand kein Zweifel, das war sein Stiefel. Sie hatte nach dem Kauf eigenhändig seine Initialen in das Leder geritzt: »A.C.« für »Alex Carmack«.

Ihr wurde schlecht, und um ihren Hals schien sich ein eiserner Ring zu legen und immer fester zuzuziehen, als sie die Buchstaben sah. Mit dem Stiefel in den Händen sank sie in den nassen Kies und begann laut zu weinen.